Aus dem Vorwort in „Neue Briefkultur mit Corporate Wording“, 1999

MAN SOLLTE MAL …

Ungeschriebene Sprache des Alltags! Schriebe sie doch einmal einer! Genauso, wie sie gesprochen wird: ohne Verkürzung, ohne Beschönigung, ohne Schminke und Puder, nicht zurechtgemacht. Die Alltagssprache ist ein Urwald – überwuchert von Schlinggewächs der Füllsel und Füllwörter. Über Stück und Steine stolpert die Sprache, stößt sich die grammatikalischen Bindeglieder wund, o temporal o modi!

Dieser Text stammt weder von heute noch von gestern, sondern wurde 1927 verfasst. Kurt Tucholsky war es, der damals nicht nur meinte, sondern auch schrieb: ‚Man sollte mal‘. Endlich Zeit zum Aufbruch in eine Neue Briefkultur? Höchste Zeit!

Gewollt oder geplant, Martin Zwernemann, er hat die Buchstaben auf die silberne Campus­-Scheibe gepackt [CD-ROM als Bestandteil des Buchs], faxte mir aus einer Laune heraus die ‚Man-sollte-mal-Tucho-Schnipsel‘. Zur Aufmunterung tristen Autorendaseins oder für die Spitze meines Papierberges? An dessen Fuß Karin Durics [Co-Autorin] tausend treffliche Vorschläge für einen modernen Briefstil, versehen mit der Notiz: „Ich bin besorgt wegen meiner Handschrift. Rufen Sie an zum  gemeinsamen Dechiffrieren.“ Viele gute und wichtige Gründe, die Neue Briefkultur dort hinzustellen, wo sie in den Unternehmen schon lange hingehört: in den Mittelpunkt!

Man sollte mal …

… ob als gedankenloser Wortproduzent, öder Textlangweiler, vermeintlicher Buchstabenzauberer … oder schlauer Freund der Germanistik nicht länger mehr ‚in Erwartung entgegensehen‘ und auch nirgendwo mehr ‚verbleiben‘ und erst recht nicht ‚hochachtungsvoll‘.

Man sollte mal …

… nicht jeden beliebigen Idioten mit ’sehr geehrter‘ anschreiben,
[Anmerkung: Vorschlag meines Verlegers, Frank Schwörer, Gründer Campus Verlag]
… sich frei machen von jeglicher eintönigen, unpersönlichen Brief­kultur.
… nicht länger mehr das blamable Niveaugefälle zwischen dem klaren Erscheinungsbild hochwertiger
Geschäftspapiere und dem Inhalt akzeptieren.

Jetzt wissen Sie, was mich bewegt, Überzeugungsarbeit zu leisten, zu­vorderst mit dem Appell:

‚Schreiben, wie man spricht!‘

Aber Vorsicht! Auch ich rede meist viel zu spontan und – je nach Anlass und Tageszeit – durchaus auch im Spektrum von nachlässig bis unkonzentriert. Protestgemurmel als Folge meiner Empfehlung auch während einer Fernsehsendung von der Buchmesse [von Publizistin und Unternehmensberaterin Gertrud Höhler]. Schreiben sei doch ein ganz anderes Medium. Stimmt. Die Schriftsprache hat ihren eigenen Stil. Und dennoch lasse ich nicht davon ab, heißt es doch: natürlich ausdrücken und Floskeln weglassen, die wir nie in den Mund nähmen. Mit „Guten Tag“ begrüßen wir uns, ob persönlich oder auch am Telefon. Ich sehe deshalb ([in diesem Fall] unbelehrbar) keinen einleuchtenden Grund, Briefe immer mit ‚Sehr geehrte .. .‘ zu beginnen.

Jeder Brief prägt Image – ob positiv oder negativ, ist die Botschaft dieses Buches.

Als un­abdingbares Ergänzungstück zum visuellen Erscheinungsbild eines Unternehmens liefert den schriftlichen Inhalt. Corporate Wording, dieser Anglizismus ist beabsichtigt, steht im Sinne des durchgängigen Stils der Formulierungen, von treffenden Wortlauten und ihrer persönlichen Fassung und für ein Konzept, das die Wirkungen von typischen Formu­lierungen auf seine Leser aufspüren hilft.

Nochmals zurück zu Kurt Tucholsky. Keinem ist es so wie ihm gelungen, sich durch Wort­ und Stilwahl neben seiner Person vier zusätzliche, völlig verschiedene Identitäten aufzubauen. Vier Synonyme, als Spiel gedacht und erfunden. Wollte doch eine Wochen­zeitung nicht viermal denselben Namen unter vier Artikeln. Ob Zufall oder nicht. Vier Typen stehen in diesem Buch im Mittelpunkt: Der perfekte Faktenleser. Vielleicht so wie Ignaz Wrobel, der essigsaure, bebrillte, blaurasierte Kerl? Die konservativen Traditions­leser, die das Bewährte bewahren. Gemeinsamkeiten mit Peter Panter, dem kleinen, kugel­runden Mann? Und das Gegenteil: Die impulsiven Ideenleser, wer kennt sie nicht? Fort­während auf der Suche nach neuen Buchstaben. Theobald Tiger in Person, der entweder Verse sang oder schlief? Und schließlich die emotionalen Sinnleser, die – wenn auch nur in Ansätzen – wie Kaspar Hauser manchmal die Welt nicht mehr verstehen.

Für jeden Lesertypus steht symbolisch eine Farbe. Mit nur wenig Übung lernen Sie, mit vier Buntstiften Texte zu analysieren und erfahren schnell, mit welchen Wörtern Sie bei welchen Typen voll ins Schwarze treffen. Wenn Sie von diesem Farbenzauber erst einmal angetan sind, machen Sie sich auf einiges gefasst! Plötzlich korrigieren Sie: „Schreibe an­fangs ein bisschen mehr blau und kürze das Gelb in der Mitte. Streiche das Grün und gebe viel Rot am Ende dazu.“ Es macht ausgesprochen Spaß, sich positiv aus dem Einheitsbrei der Schriftkunst mit 4-Farben-Briefen abzuheben.

Zu den Buntstiften gesellt sich zur Ergänzung eine nützliche, zu neuen Textideen anre­gende digitale Lösung: unter vielfältigen Textvorschlägen können Sie mit Hilfe der gleichen Farbsymbolik unter vielen Formulierungsvarianten wählen. Was wollen Sie beim Emp­fänger ansprechen: Gefühl, Intuition, Verstand oder Sinne? Sachliche, empfehlende, au­ßergewöhnliche und gefühlsbetonte Einleitungs- und Schlusssätze. Überzeugende Aussa­gen und sympathische Konfliktlöser für heikle Situationen werben, verkaufen und über­zeugen.

Mit Buch und Silberscheibe laden wir Sie zu neuen Schreibvergnügen ein – ganz anders, als man es je vom klassischen Deutschunterricht erwarten könnte. Nebenbei lernen Sie neue Stilrichtlinien kennen und erfahren Wichtiges auch über eine frauengerechte Sprache [heute wäre es an dieser Stelle das Thema Gendern], ohne die eine Neue Briefkultur natürlich Utopie bliebe.

Ein erkenntnisreiches Leseerlebnis und viel Erfolg bei der Umsetzung Ihrer Neuen Brief­kultur!