Aus „Corporate Wording – Konzepte für unternehmerische Schreibkultur“, 1994, Campus Verlag
Märchen und Realität
Es war einmal ein Unternehmen, das hieß BLAU AG.
Dort war alles blau:
Die Schreibtische, die Ordner, die Kantine –
ja, selbst die Blumen im Empfang.
Alle arbeiteten zwischen kühlem Glas, kaltem Chrom
und blauem Schleiflack.
Was auch immer die Firma anzubieten hatte,
wurde in Prospekten und Broschüren technisch umschrieben:
Ob es Autos, Fotoapparate, Computer, Sportschuhe,
Rasenmäher, Haushaltsgeräte oder etwas ganz anderes.
Die rational denkenden Manager stellten ihre
Zahlen und Fakten in den Vordergrund,
denn ihre Marken-Vision hieß »Technik«.
Alles, worüber geredet und geschrieben wurde,
war sachorientiert.
Auch in Briefen vermittelten sie mit
unverständlichen Floskeln ihre »Btue-ldentity«.
Früher war die BLAU AG eine große, bekannte Marke.
Längst hatte sich Rost angesetzt, nur: keiner merkte es!
Die Kunden zeigten Unverständnis und Kaufunlust,
denn sie waren auf der Suche nach vielseitigeren Informationen.
Aber die fanden sie bei der BLAU AG nicht.
Von alldem spürten die Verantwortlichen
im blauen Nadelstreifen nichts.
Nie wären sie auf die Idee gekommen,
daß es auf der Welt noch etwas anderes außer Technik gibt.
In einem fernen Land lebte ein Wort-Zauberer.
Er liebte farbige, phantasievolle Briefe, Anzeigen und Prospekte.
Seine Wörterwelt konnte ihm nicht bunt genug sein.
So kam es dann auch, daß er beschloß,
der BLAU AG ein rotes Wörterbuch zu zaubern.
Das Buch mit roten Wörtern landete genau auf dem
Schreibtisch eines Managers.
Er las darin viele rote Wörter, die in ihm
mannigfaltige Gefühle und Emotionen weckten:
Teamgeist, Wärme, Geborgenheit, Moral, Ethik,
Natur, Familie und vieles mehr.
„Was für angenehme Klänge!“ dachte er,
„Wie im Märchen.“
Am anderen Morgen hatte das gesamte
Management von dem roten Wörterbuch erfahren.
Ungeduldig und erwartungsvoll lasen sie Wort für Wort.
Sie spürten den Lebensgenuss,
der in den roten Wörtern steckte.
Das gefiel dem Wort-Zauberer.
Am nächsten Tag zauberte er wieder ein Wörterbuch in die BLAU AG.
Dieses Mal ein strahlend gelbes.
Es fiel dem Geschäftsführer direkt vor die Nase.
Spontan ergriff er es und las darin.
Die prickelnde Atmosphäre, die er dabei intuitiv erlebte, faszinierte ihn.
Er fühlte sich verändert,
entdeckte plötzlich eine Erlebniswelt um sich herum
und impulsiv bekam er Lust auf Abenteuer und Zeitvertreib!
Unbekümmert ließ er sich von den gelben Wörtern leiten,
voller Einfallsreichtum ging er an die Arbeit.
Diese Neuheit sprach sich schnell herum.
Manchen gefielen die gelben, individuellen Wörter besser.
Einige aber fanden die roten Wörter viel reizvoller.
Andere wollten weder von dem gelben
noch von dem roten Wörterbuch etwas wissen
und hielten lieber an ihrer kühlen, blauen Wortarmut fest.
Es dauerte aber nicht lange, bis sich einer von ihnen entschloss,
sich mit den farbigen Wörterbüchern näher zu befassen.
Er trug sein blaues in der einen Hand
und griff mit der anderen nach dem gelben.
Beide Wörterbücher legte er auf einen Tisch.
Und da geschah etwas seltsames.
„Schaut nur, schaut!“ rief er den anderen zu.
„Eben lagen hier noch zwei Bücher und plötzlich sind es drei.
Das muss Zauberei sein.“
Einer der ganz Eifrigen blickte auf das fremde Buch.
Es war grün. Er las den Titel vor:
„Das grüne Wörterbuch. Wörter über Garantie,
Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt.“
Alle verstanden sofort:
Genau das hatte ihnen in ihrer Firma noch gefehlt.
Aus dem blauen Unternehmen der rationalen Einfalt
wurde eine sinnenreiche Unternehmung
der impulsiven und emotionalen Vielfalt.
Längst haben unzählige blaue, grüne, gelbe und rote
Wörterbücher ihren Platz in allen Abteilungen gefunden.
Und jeder formt aus den vielen Wörtern farbig klingende
Brief- und Werbetexte.
In der BLAU AG hatte man etwas sehr wesentliches gelernt:
Niemand kommt ohne den farbigen Wörterreichtum aus.
Denn Kunden sind verschiedenartige Menschen.
Und je mannigfaltiger das Unternehmen informiert,
desto wacher wird das Interesse bei
- rationalen Perfektionisten,
- traditionellen Konservativen,
- kreativen Impulsiven
- und lebensbewußten Emotionalen.
Man sagt, aus dieser Erkenntnis heraus
sollen inzwischen immer mehr Firmen
die farbige Wörtervielfalt als neue Schreibkultur
ihrer Kommunikationsplanung vorangestellt haben …